m3 Architekten – Die Weitsichtigen

Etwas mehr als 32 Jahre ist es her, als die Berliner Mauer, die den Westen vom Osten trennte, gefallen ist. Trotz Wiedervereinigung im Jahr 1989 zeigt der Stadtteil im Osten Berlins immer noch deutliche Spuren einer verlorenen Zeit. In Leipzig ist das anders. Ganz anders. Wie ein Phönix ist die Stadt aus der Asche gestiegen und hat in rekordverdächtiger Geschwindigkeit das Aschenputtel zu einer urbanen Prinzessin gemacht, zu einer Stadt, die eine grosse Begehrlichkeit weckt, hier zu leben. Basil Düby hat als Architekt am rasanten Wiederaufbau teilgenommen. Der Leipziger Glaube an die Zukunft hat sich auf seine Arbeitsweise übertragen. Für ihn zählt die Zuversicht und nicht das Zaudern und Wehklagen über Vergangenes und Entgangenes. Das widerspiegelt sich in den Bauten von m3 Architekten: Es sind mit viel Liebe gemachte Verschnaufpausen vom Austauschbaren.

Frank Joss: Rem Koolhaas meint anlässlich seiner Ausstellung «Countryside, The Future», die wahre Zukunft wird auf dem Land wohnen. Fiktion oder schon bald Wirklichkeit?

Basil Düby: Rein ökonomisch betrachtet, denke ich nicht, dass es so sein wird. Auch ökologisch ist es fraglich, da das Leben auf dem Land für eine laufend zunehmende Population eine enorme Infrastruktur erfordert. Mit Blick auf die Entwicklung – zumindest in unseren Breitengraden – stellt man fest, dass die bevorzugte Wohnlage wechselweise in der Stadt und auf dem Land ist. In den 70er-Jahren war das Einfamilienhaus, und damit das Wohnen im Grünen, das erstrebenswerte Modell. Es folgte ein Wandel in Richtung Stadt. Und das urbane Leben war das Nonplusultra. Nun, nicht zuletzt wegen Corona, Homeoffice und Besinnung auf wesentliche Lebensqualitäten, ist das Leben auf dem Land wieder attraktiv und in der Nachfrage steigend.

Simon Künzler: Wir wohnen in einer Stadt, in welcher man nur das Gegenteil wahrnimmt und das in unterschiedlichsten Erscheinungsformen. Es gibt zu wenige Wohnungen in der Stadt. Auch sollten die neu zu schaffenden für ganz unterschiedliche soziale Milieus funktionieren. Es braucht aber auch ein Konzept für einen wirksamen Lärmschutz. Die vielen attraktiven Räume und Plätze sollten öffentlich gemacht werden, um die emotionale Seite Zürichs zu stärken.

Der gleiche Mann, der in seinem Manifest «Delirious New York» die Stadt so radikal verherrlichte, hat eine 180 Grad Kehrtwende gemacht und sieht unser Seelenheil auf dem Land: «Viele Menschen erleben nie – oder viel zu selten – die olfaktorische Sensation eines Kuhstalls. Diesen Geruch von Mist, Gülle und Tierfell, der sich schon nach wenigen Minuten des Stallbesuchs so in der Kleidung festsetzt», so Rem Koolhaas.

Simon Künzler: Wenn ich die Stadt verlasse, spüre ich diese olfaktorische Offenbarung. Das Gesichtsfeld weitet sich. Die Farben werden intensiver, die Gerüche werden unterschiedlicher. Zum Teil werden archaische Sinneseindrücke aktiviert. Aber von Seelenheil würde ich nie reden. Es ist doch die Spannung, die von der Wechselwirkung zwischen Stadt und Land ausgeht.

20 Jahre m3 Architekten, was löst dieses Jubiläum in Ihnen aus? Stolz? Genugtuung? Zufriedenheit?

Basil Düby: Stolz? Genugtuung? Zufriedenheit? Trifft alles zu. Doch beim Glücksgefühl möchte ich ein wenig ausholen. Als Student habe ich mich immer wieder gefragt, was ich Mitte Dreissig wohl machen werde. Mit grosser Zufriedenheit kann ich heute noch sagen, mit der Architektur die richtige Berufswahl getroffen zu haben. Ein Wermutstropfen fällt schon noch vom Tisch – über das Bedauern, wie schnell doch 20 schöne und erfüllte Jahre vergangen sind.

Simon Künzler: Mit dem Gedanken an Vergangenes überkommt mich schon eine gewisse nostalgisch geprägte Wehmut. Beim Zurückgehen in die Vergangenheit beschleicht mich das Gefühl, früher viel freier gewesen zu sein für eine neue Aufgabe. Die baugesetzlichen Auflagen waren ja noch nicht so verdichtet. Ja, jeder noch so kleine Arbeitsschritt war von Neugierde umschmeichelt, vom Aufbrechen zu neuen Ufern, vom vibrierenden Tanz der Improvisation.

Wie feiern Sie das 20-jährige Jubiläum?

Basil Düby: Wegen Corona ist eine Feier leider nicht möglich. Schade. Wir sind gut im Feiern. Und wer weiss, vielleicht ist es ja bald möglich, im begrenzten Rahmen kleine Sternstunden zu feiern. Jedenfalls habe wir da was im Kopf, wie kreativ die Champagnerkorken knallen sollen.

Hypothese 1: Sie haben alles Geld der Welt, freie Bahn und können ein Objekt bauen. Wo steht dieses und was verbinden Sie damit?

Simon Künzler: Ohne falsche Bescheidenheit – es wäre kein Objekt, das nur meiner eigenen Glückseligkeit diente. In meiner Idealvorstellung ist es ein Mehrgenerationenhaus mit Gemeinschaftseigentümern; gebaut mit nachhaltigen, grundsoliden und ehrlichen Materialien. Low-Tech for Asthetics – und das mitten in der Stadt Zürich. Das sollte für mehrere Generationen, über einen langen Zeithorizont zugänglich sein.

Basil Düby: Singapur. Beispielsweise ein Wohnbauprojekt wie die visionäre und moderne Apartmentsiedlung «The Interplace» von OMA und Ole Scheeren. Damit verbunden das Anlegen einer verdichteten, ökologischen und ökonomischen Mixed-use-Megastruktur. Sie umfasst das Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Sport, Kinderbetreuung, umgeben von einem gemeinsam nutzbaren Aussenbereich, in dem ein Gefühlsmensch aufatmen kann, sobald er ihn betritt.

Hypothese II: Für welche weltbedeutende Persönlichkeit, das kann auch eine historische sein, möchten Sie ein Haus bauen?

Simon Künzler: Für Roger Moore. Heute kennen wir ihn als Prototypen des britischen Gentlemans, doch um ein Haar hätte er einen ganz anderen Karriereweg als die Schauspielerei eingeschlagen. Eigentlich wollte der Sohn eines Polizisten und einer Kassiererin nämlich Zeichner werden und liess sich dafür an der Londoner Kunstschule ausbilden. Nach seinem Abschluss arbeitete er für ein Trickfilmstudio. Mir gefällt es, welche Kurve er für sein Leben gefahren hat. Ganz abgesehen davon, dass er der beste aller James Bond war.

Basil Düby: James Bond. Michelle und Barak Obama. Banksy. Elon Musk.

Wann ist Nachhaltigkeit eigentlich wirklich nachhaltig?

Siomon Künzler: Wenn spätere Generationen das Objekt in seiner Nachhaltigkeit ebenfalls noch als nachhaltig einstufen. Dementsprechend glaube ich an Nachhaltigkeit, aber würde mich nie versteifen auf eine Architektur, die nur nachhaltig ist.

Basil Düby: Wenn etwas gut gestaltet, gut gemacht, von guter Qualität und langlebig ist und darum allgemein geschätzt und erhalten wird.

Basil Düby, was lehrte Sie die Zeit, die Sie in Leipzig verbracht haben?

Mich fasziniert, wie Leipzig nicht nach Herkunft fragte, sondern sich in Zuversicht übte. Trotzdem ein Blick retour: Die Stadt hat das Prädikat des Wilden Ostens mit schillernden Figuren, die am Wandel beteiligt waren: Beispiel Dr. Jürgen Schneider. Ein Hochstapler, der ein Fünf-Milliarden-Kreditschuldenloch hinterliess und trotzdem für die Entwicklung der Stadt Leipzig ein «Glücksfall« war. Es war interessant, Leipzig als Zeitzeuge zu erleben, zu sehen, in wie kurzer Zeit eine Stadt verwandelt und saniert werden kann. Nicht alles ist auf Anhieb gelungen, doch nach rund 30 Jahren ist aus Leipzig ein wahres Bijou geworden. Sein grosses Potenzial basiert auf der Gründerzeitarchitektur. Leipzig verfügt über die meisten Jugendstilbauten Deutschlands und über einen spannenden geplanten Stadtgrundriss mit Ringstrassen und radialen Ausfallstrassen. Die Kreissegmente zwischen den Ausfallstrassen sind in einem orthogonalen Raster bebaut. Auch die klaren Blockrandbebauungen, die sich zu den Parks zunehmend auflösen und deren Baufelder letztlich nur noch von herrschaftlichen Villen besetzt werden, sind eine grosse architektonische Geste. In Leipzig habe ich das Leben und den Wandel sehr genossen. Ich freue mich, wie international die Stadt geworden ist und dass sie langsam Berlin den Rang abläuft. In Leipzig waren, was für einen Schweizer ungewöhnlich ist, die Spuren der Neugeschichte überall ersichtlich. Brandmauern, Einschusslöcher, Granateinschlagspuren auf Gehweggranitplatten aus der Zeit des zweiten Weltkrieges, die verlotterten Plattenbausiedlungen und typgleichen Infrastrukturbauten aus der DDR Zeit. Dann eine wahre Augenweide: die verkommenen Jugendstil- und Industriebauten – alle von Braunkohlestaub überzogen und all die gepflasterten Strassen, mitunter in Holz gefertigt. Leipzig ist ein lang verborgener Schatz, der nun wieder erstrahlt und viele politische Ränkespiele kraftvoll weggesteckt hat.

Architekten machen mit Ihrer Arbeit auch klare Statements, indem sie durch ihre Bauten nicht nur eine Lebensweise vorgeben, sondern damit auch politische Haltungen und Weltanschauungen. Welches ist Ihre Botschaft, die Sie mit Ihrer Architektur an die Gesellschaft weitergeben möchten?

Basil Düby: Unsere Architektur ist ein klarer Rahmen, in dem sich die Nutzer entfalten können – unabhängig von Weltanschauung oder Religion. Wir denken Architektur aus der Sache heraus. Natürlich sind wir von unserem Kulturkreis geprägt, ebenso von unserer Denkweise und den Entscheidungsketten, die zu unserer Architektur gehören.

François Jullien, der Sinologe und Philosoph, meint: Es gibt keine kulturelle Identität, es gibt nur kulturelle Ressourcen. Identität ist ein latent oder auch offen ausschliessender Begriff. Wenn wir stattdessen von Ressourcen sprechen, dann schliessen wir ein. Wo stehen Sie zum Begriff Identität?

Simon Künzler: Jedes soziale Wesen hat eine Identität. Diese wird natürlich auch in dessen kulturellem Umfeld geformt. Das heisst für mich aber auch, die kulturelle Identität ist nur ein Teil unserer Identität und wir haben noch viele andere Parameter, die unsere Identität ausmachen, die in einem ganz persönlichen Fundus begründet sind.

Basil Düby: Ich sehe die Denkweise von François Jullien – sie ist klug. In seinem Fall geht sie von grundsätzlich verschiedenen Kulturkreisen aus, in denen er sich bewegt und forscht. Daher ist «ausschliessend» und «einschliessend» spürbarer. Identität hat für mich mit Prägung zu tun, die natürlich mit der Kultur und der Gesellschaft, in der man aufwächst, eng verbunden ist. Man ist geformt von der Kultur und identifiziert sich mit ihr und ihren Mitgliedern – ein ganz natürlicher Prozess. Die kulturelle Identität prägt auch mein Handeln und meine Wertvorstellungen, die für mich das Hier und Jetzt bestimmen und von Dritten wohl auch gut verstanden werden.

Es gibt Architektur, die mit minimalstem Aufwand, maximale Funktionalität, Raum- und Lichtqualität erreicht. Sie dient dem Wohlbefinden der Menschen. Diese Qualität gilt auch für die Aussenräume und die Stadtentwicklung. Was will Ihre Architektur?

Basil Düby: Im Grunde genommen entspricht diese Beschreibung ziemlich genau unserer Architektur. Gegenwärtig ist Verdichtung ein grosses Thema, was dazu führt, dass Grundstücke maximal ausgenutzt werden und die Umgebung zum Abstandgrün verkommt – speziell bei Mehrfamilienhäusern. Wir versuchen Antworten auf diesen Trend zu geben, indem wir unkonventionelle Wohnkonzepte entwickeln und den Bewohnern Komfort im Sinne von «Eigenheimqualitäten im Mehrfamilienhaus« bieten. Stichwort: Privatsphäre, Entflechtung, individuelle Erschliessung von Wohnungen. Ein spezielles Augenmerk richten wir auf den Aussenraum und zwar schon zu Beginn des Entwurfs. Es handelt sich bei uns nicht um eine Restfläche, sondern um einen landschaftsgärtnerisch sorgfältig zu gestaltenden Raum, von dem der Erfolg des Gesamtprojekts massgebend abhängt, da Architektur und Landschaftsarchitektur für uns zwingend zusammengehören.

Das Moriyama-Haus des japanischen Architekten Nishizawa ist eine Art Fortsetzung dessen, was im alten Tokio üblich war: Die Menschen bildeten eine Gemeinschaft. Sie lebten auf der Strasse. Sie teilten sich ihren Lebensraum. Das war lange vor der Generation Suburbia, vor Toyolto, sogar vor dem Krieg. Es hat auch nichts mit dem Leben auf dem Lande zu tun. Nein, es ist eine Form des städtischen Zusammenlebens aus früheren Zeiten. Nishizawa ist der Ansicht, dass sich Nachbarschaft zu einer neuen Lebensform entwickeln wird. Also sollten Architekten nicht einfach Häuser entwerfen, sondern eine Atmosphäre zum Leben. Einverstanden?

Basil Düby: Ich habe mich mit dem Projekt befasst und finde es für Japan – speziell für Tokio – einen interessanten Ansatz, der klar auf der japanische Tradition beruht. Und mit der Frage bin ich mehr als einverstanden. Vor kurzem habe ich wieder mal das kleine Buch «Atmosphären» von Peter Zumthor gelesen, in dem er in rund einem Dutzend Kapiteln dem Thema Atmosphäre und Qualität auf den Grund geht. Sehr lesenswert. Als Büro befassen wir uns täglich mit dem Thema Atmosphäre. Wie erwähnt, entwerfen wir ein Projekt und dessen Umgebung zusammen. Alles in allem nahtlos übergehend in die Materialisierung, die Farbgestaltung und, last but not least, in ein passendes Lichtkonzept. Das Zusammenspiel ergibt dann die gewünschte Szenografie.

Simon Künzler: Das Haus von Nishizawa gefällt mir. Möchte gleich einziehen. Wo kann ich mich bewerben?

Basil Düby und Simon Künzler: Die Frage muss ja noch kommen, um den Beitrag in unserem Magazin zu rechtfertigen: Quo vadis Stadtarchitektur post Corona?

Simon Künzler: Ich glaube nicht an einen Einfluss von Corona auf die Stadtarchitektur. Viele Themen in der Stadtarchitektur sind aufgegleist, werden weiterentwickelt oder verworfen, neue Diskurse starten – das läuft auch mit oder ohne Corona. Der Klimawandel hingegen wird jedoch die Themen in der Stadtarchitektur in Zukunft durcheinanderwirbeln und uns vor neue Herausforderungen stellen.

Basil Düby: Über einen längeren Zeithorizont hinaus betrachtet, wird sich meiner Meinung nach nicht viel ändern, die Menschheit vergisst und es geht weiter, wie vor der Krise. Es wird Veränderung geben: im Wohnen und bei der Arbeit gleichermassen; es entstehen Nischen und damit auch neue Möglichkeiten.

Wenn Ihre Art, Architektur zu machen, eine Musik wäre, welche? Es kann ein Komponist, ein Interpret oder auch eine Musikrichtung sein.

Beide: Fanta 4 vielleicht: innovativ, vielschichtig, auch mit zunehmendem Alter jung, unverkrampft, ernsthaft und trotzdem spitzbübisch und locker.

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