Iria Degen – die Formvirtuosin

Iria Degen wurde in der Schweiz geboren und studierte zuerst Jura an der Universität Zürich, bevor sie sich entschied, eine Ausbildung zur Innenarchitektin an der Ecole Camondo in Paris zu machen. Mittlerweile ist sie eine der gefragtesten Interior-Designerinnen der Schweiz. Mit ihrem Team richtet sie unter anderem Privathäuser, Restaurants, Hotels und Boutiquen ein – national sowie auch international. Ihr Stil: Schlichtes Design in dezenten Naturfarben, das durch seine zeitlose und klassische Schönheit besticht.


Frank Joss: Iria Degen, bei der Architektur und der Innenarchitektur gibt es ja das ästhetische Moment, dasjenige des Körpers, dasjenige der Form und Funktion und dann beginnt man mit dem Entwurf. Mir fehlt aber meist noch ein ganz wichtiges Moment und das heisst Poesie, die einen von Anfang an begleiten sollte…

Iria Degen: Ja, das liegt an unserer heutigen Welt: Zeit ist Geld, es muss kommerziell stimmen, nichts ist eine Beschäftigungstherapie, sondern es muss sich rechnen. Das hört man immer wieder bei diesen Projekten – weniger in den privaten natürlich. Ich sage oft während Diskussionen: «Stop. Aber wo ist die Idee?». Es beginnt doch alles bei irgendeiner Idee, bei einer Essenz. Ich würde jetzt nicht so weit gehen und «Poesie» sagen – aber wo ist die Kür geblieben? Das Pflichtprogramm muss man sowieso erbringen, das ist selbstverständlich. Aber in diesem Schnelllebigen, bei dem man immer Deadlines und Budgets folgen muss, sollte man manchmal ein bisschen innehalten. Nur wenn man einen kohärenten, roten Faden hat, kann man begeistern. Ich sehe uns nicht nur als Designer, ich sehe uns auch als knallharte Dienstleister. Aber ich finde es sehr wichtig, dass wir immer wieder begeistern können.

Die Art, wie Sie arbeiten, die Art, wie Sie denken, die Art, wie Sie funktionieren: Hat das manchmal auch eine Verbindung zu Ihrem kulturellen Hintergrund?

Meine Grossmutter kam aus Thailand, meine Mutter wuchs bis zum Alter von 12 Jahren in Bangkok auf, dann zog sie zur Tante in Sursee. Meine Mutter ist also halb Thai, halb Schweizerin. Und sie hat auch Schule, Studium und alles weitere in der Schweiz gemacht. Aber ich glaube schon, dass mich diese asiatischen Wurzeln sehr prägen.

Wo werden diese Wurzeln sichtbar?

In der Ruhe, in der Gelassenheit, in der Stille. Ich habe das von meiner Mutter bekommen und das ist das grösste Geschenk überhaupt. Das ist die Basis. Daher kommt auch eine Bescheidenheit, Fleiss ist ein weiteres Attribut sowie sich nicht in den Vordergrund drängen zu müssen.

Auch Demut ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Wort…

Ja, Demut und Dankbarkeit. Dankbarkeit für das, was ist. Nicht etwas nachrennen, das nicht ist – oder das noch nicht ist. Klar kann man Träume haben, klar soll man sich Sachen vornehmen. Aber sich an dem freuen und nähren, was ist, das ist irrsinnig schön, wenn man das kann. Dann ist man zufrieden. Und wenn man zufrieden ist, kann man dann weiter überlegen: Was kann ich jemanden geben, wie kann ich jemanden beschenken?

Ist es in Ihrem Sinn, gewisse Projekte mit einem interdisziplinär zusammengestellten Team anzugehen? Also mit Leuten, die, prima vista, nicht vom Fach sind, wie Soziologen, Musiker, Cineasten, Schriftsteller… Es geht ja darum, stigmatisierte Sichtweisen aufzubrechen.

Absolut. Die Welt ist komplett multikulti, es ist alles interdisziplinär geworden, es ist alles zugänglich für alle, die das wollen und suchen. Heute ist die grösste Challenge, dass man flexibel bleibt und dass man die Sachen verknüpfen kann. Wenn man seinen Kindern etwas auf den Weg mitgeben will, dann ist es das. Wie zum Beispiel in der heutigen Zeit mit der Pandemie, da muss man sich anpassen, gleich reagieren.
Weltweit laufen diese Innendesign-Kongresse – bei deren Vereinigung ich ja im Vorstand war – nur noch interdisziplinär ab: Da sind Fashion Designer, Landscape Architects, Lichtdesigner und Politiker. Dann lässt man diese diversen Perspektiven aufeinander prallen, hört sich die unterschiedlichen Argumente an und aufgrund dessen macht man seine Strategie. Das ist hochspannend.

Ganz konkret: Gibt es in Ihrem Büro jemanden, der aus einem ganz anderen Bereich kommt?

Aufgrund meines Jura-Studiums bin ich selbst schon eine absolute Quereinsteigerin.

Wenn Sie das Budget hätten, welche Leute würden Sie sich zusätzlich in Ihrem Team wünschen?

Künstler, die mit Optik, Grafik, dem Visuellen zu tun haben.

Wenn Ihnen aber jeder Wunsch erfüllt wird, welcher bedeutende Künstler würden Sie in Ihr Team holen?

Ich glaube, auf die Berühmtheit kommt es nicht an. Es müssen vielmehr Leute sein, die selbst das Gefühl haben, dass sie noch nicht angekommen sind. Es müssen Suchende, Neugierige sein. Das hat jedoch nichts mit Alter oder Ruhm zu tun.
Künstler sind für mich frei, bei nichts ist man so tolerant wie bei der Kunst. Es kann polarisieren, es gefällt oder nicht. Ich würde also Künstler wollen, die zum Beispiel mit Material nochmals anders umgehen können. Das wäre eine Bereicherung für uns.

Haben Sie eine besondere Leidenschaft für gewisse Habitate?

Was ich besonders gerne mache, sind Hotels. Man hat dort einen öffentlichen Raum, diese Transition, die private Situation in den Zimmern, aber auch spezielle Räume, wie einen Erholungs- oder ein Wellnessraum, Gruppen-Veranstaltungsräume… Man hat also diverse Situationen, die es im Leben auch gibt. Ein Hotel ist ein grosses Gebäude, das in sich eigene Welten birgt. Die riesengrossen Blöcke, das sind schon fast Maschinen, bei denen Funktion ganz gross geschrieben wird. Aber man möchte den Gästen trotzdem den Wohlfühlfaktor bieten. Das Hotel hat all diese Facetten in irgendeiner Form und ich finde das faszinierend, wenn man das ganze Knowhow kombinieren kann. Wir gehen ja bei unseren Projekten immer vom Menschen aus, von dessen menschlichen Bedürfnissen. Man steht auf, man macht sich auf den Weg zur Arbeit, man geht im Restaurant zu Mittag essen, man geht einkaufen und dann kommt man wieder nach Hause. Das ist ein Kreislauf des immer gleichen Menschen. Man nimmt ihn immer wieder anders auf und gibt wieder anders ab, eine Actio-Reactio-Geschichte. Das ist für mich das unendlich Spannende an meinem Beruf.

Die Corona-Krise hat uns im Würgegriff in allen Lebenssituationen. Wie haben Sie sich persönlich mit der Corona-Situation auseinandergesetzt? Was haben Sie für sich mitgenommen? Vielleicht gibt es etwas, das Sie verändern möchten…

Dass ich einfach wieder mal einen Gang runterfahre. Einfach schauen, was ist möglich, was ist verhältnismässig. Man hat Zeit gehabt, um sich zu besinnen. Muss man so viel reisen? Muss man immer an diese Meetings mit 20 Leuten fahren, bei denen 15 davon nichts sagen? Solche Sachen hinterfragt man nun kritischer als einfach loszurennen.

Eine hypothetische Frage: Wenn Sie alle Möglichkeiten hätten – sei es ein Museum, Musical oder ganz berühmte Häuser – was möchten Sie noch unbedingt gestalten?

(Mit einem Schmunzeln im Gesicht): Ich bin diesen Traum gerade am Umsetzen mit meinem Living Showroom in Spanien. Das dauert nun schon acht Jahre. Auch hier gilt: Der Weg ist das Ziel. Was ich aber auch schon immer machen wollte: Ein Segelbot gestalten. Mit 12 Jahren machte ich einen Segelkurs. Meine Mutter fuhr damals mit mir und meiner Schwester zum Chiemsee – im Jahrhundertregen. Ich fühl mich auch heute noch wie ein Fisch im Wasser, habe auch sehr viele Tauchgänge gemacht. Segeln heisst für mich, mit einem langsamen Boot unterwegs sein, das vom Wind abhängig ist, das sich der Naturgewalt unterordnen muss. Diese sehr überschaubare, kompakte, intelligente Welt. Da wurde bei jedem Centimeter in die Waagschale gelegt, wie man mit engsten Raum umgeht. Wie man alles funktional gestaltet, aber schön. Und das auf dem Wasser, das eben mein Element ist, auf dem ich mich sehr wohl fühle. Man merkt, wie klein man ist. Man ist abhängig – aber es hat etwas Vertrautes.

Mit welcher Sehnsucht ist das sonst noch verbunden? Einerseits die Kindheitserinnerungen…

Dieses Wetterspektakel. Ich habe ja eine grosse Terrasse, 180 Grad ums Haus herum. Ich könnte das jeden Tag fotografieren, es ist nie gleich. Ich kann mich daran nicht sattsehen.

Beim Design braucht es ja immer auch starke Leute im Hintergrund, die das umsetzen. Was haben Sie diesbezüglich für Erfahrungen gemacht?

Da erwähne ich gerne die wertvolle Zusammenarbeit mit Mobimex zur Entstehung des AVA-Tischs. Beispielhaft dafür, was entstehen kann, wenn man bei der Entwicklung eines Projekts gegen einige Herausforderungen ankämpft und dabei nie aufgibt. So ist AVA, ein Tisch, entstanden, der nicht in der grautäglichen Nebelverfinsterung des Austauschbaren verschwindet. Er ist ein Statement für Handwerkskunst und Design gleichermassen. Die Passion dafür, Einzigartiges zu schaffen, habe ich mit Philippe Walther, CEO von Mobimex, gerne geteilt. Der Tisch AVA ist in jeder Hinsicht alltagstauglich. Seine wertvollsten Attribute: Die auffällige Oberflächenstruktur des Fusses, die in verschiedenen Ausführungen zur Auswahl steht, erzeugt einen harmonischen Dialog mit der Textur der Platte. Skulptural. Schmuckvoll. Modular.

Und dann gibt es auch noch das Projekt für Andermatt Swiss Alps…

Genau. Das ist eine Organisation, die sich um die Entwicklung des Ressorts «Andermatt» kümmert. In ihrem Auftrag haben wir im «Haus Fuchs» das Interior Design gemacht. Es entstand der Anspruch, den Wohnraum zu einem Möglichkeitsraum werden zu lassen. Das Apartmenthaus Fuchs erinnert an die Herrenhausarchitektur aus dem 19. Jahrhundert. Das Erscheinungsbild ist ruhig und dezent mit malerischen Einsätzen im Bereich des Eingangs und den Traufbereichen. Die Grundrisse der Wohnungen hingegen sind innovativ und einzigartig. Die so genannte Splitt-Level-Logik lässt die Böden und Decken in Teilbereichen nach unten oder oben verspringen und erzeugen so ein ganz besonderes Raumgefühl. Die 18 Wohnungen sind zwischen 53 und 135 m2 gross. Im Zwischengeschoss besteht eine hauseigene Sauna, Ski- und Veloräume sind im Erd- und Untergeschoss.

Die Architektur, das Interior Design oder die Objekte sind heutzutage uniform geworden, obwohl man überall von Vielfalt spricht. Das Leben ist ja auch vielfältig und hat viele Facetten. Können Sie diese Vielfalt erhalten? Oder reduzieren Sie sie auf gewisse Erscheinungsformen?

Jetzt haben wir gerade aktuell ein Projekt in Luxemburg, ein Hotel, dessen Fassade denkmalgeschützt ist, weil es in den 30er Jahren gebaut wurde und so ein spezielles Zickzack-Dekor an der Fassade hat und ich habe noch nie mit diesem Zickzack-Muster gearbeitet. Noch nie in den letzten 20 Jahren fand ich dieses Zickzack interessant. Aber jetzt habe ich einen Aufhänger und ich lass mich jetzt von diesem Zickzack inspirieren und übernehme kleine Anspielungen davon beim Interior. Dann entsteht eine neue Form aus etwas, das mir zwar bis anhin nie wirklich gefallen hat, aber von dem ich mich nun leiten lasse. Und dann beginne ich zu recherchieren. Was kann man daraus Spannendes generieren? Wie passt das zusammen mit unserer Gestaltung, mit unseren Ideen? Das ist ein Suchen, das sehr bereichernd ist. Ich habe das Zickzack nicht erfunden, ich habe es nur anerkannt, annektiert und respektiert, dass das uns mit auf den Weg gegeben wurde. Und darum ist auch jedes Projekt so individuell.

Das sind Sie. Aber allgemein in der Architektur; es besteht eine wahnsinnige Uniformierung. Diese ganzen Areal-Entwicklungen, die könnte man von Bern nach Basel stellen und man wüsste nicht, gehört das jetzt nun zu Basel oder steht das in Bern.

Richtig, es gibt solche Zeitepochen, im weitesten Sinne Trends. Zum Beispiel sieht man plötzlich wieder diese Fassaden mit den Keramikplatten… Es entwickeln sich immer solche Trends aus der Gesellschaft heraus und ich bin überhaupt nicht jemand, der diesen Folge leistet. Zum Beispiel bei unserer Collection: Viele Teile davon könnten gestern entstanden sein, aber sie sind schon 20-jährig. Ich habe immer die zeitlose, unaufgeregte Designsprache gesucht, weil diese mir einfach nahesteht. Und nicht, dass ich finde, dass das, was die anderen jetzt trendy machen, schrecklich wäre. Es steht mir einfach nicht nahe. Ich bin da klassischer: Zum Beispiel diese Schlammfarben, die ich für meine Corporate Identity gewählt habe, die habe ich seit 20 Jahren nie verändert. Und damals war das überhaupt keine Trendfarbe. Und heute sagt man «immer diese Schlammfarben…». Aber ich habe das damals gewählt, weil es mir besser gefällt als grelle Farben und ich mich voll und ganz damit identifizieren konnte. Ich habe vor 20 Jahren kein rotes Kleid besessen, vor 40 Jahren nicht und werde auch in 10 Jahren keines besitzen.

Wer ist Ihnen näher, die Rebellin oder die Reflektierende?

Ich bin keine Rebellin. Ich weiss, ich kann die Welt nicht alleine verändern. Wir können sicher als grössere Gemeinschaft Sachen bewegen und uns anstrengen, eine Richtung einzuschlagen, von der man überzeugt ist. Ich bin kritisch im möglichen Rahmen. Aber ich bin nicht frustriert, dass ich die Welt nicht verändern kann. Ich kann nur meine eigene Einstellung verändern. Was ich auch einen wichtigen Aspekt finde: Ich bin mir bewusst, dass ich nicht endlos Energie habe. Wir haben alle eine begrenzte Menge an Energie und wir sollten diese sinnvoll einsetzen, dass es irgendwo etwas Positives, etwas Zielführendes generiert. Und dieser Ressourcenhaushalt ist sehr wichtig – ich bin kein Burnout-Kandidat.

Woher ziehen Sie diese Energie für diesen ausbalancierten Gemütszustand? Was sind Ihre Quellen der Kraft?

Dankbarkeit, das ist fundamental. Ich danke meiner Familie. Ich danke meinem Team, das mich immer trägt. Ich danke mir selbst. Und am Schluss braucht es einfach eine Prise Glück. Man kann nicht alles immer herleiten. Humor finde ich auch ganz wichtig. Dass man sich aus gewissen Situationen «herauslachen» kann. Es ist ja ernst, das Leben ist ernst. Schau dir mal die Nachrichten an: Alles ist ernst, alles ist dramatisch. Aber wenn man im Kleinen Freude haben und lachen kann und nicht nur alles immer todernst nehmen muss, dann ist das schon viel wert.

Morgen ist Weltuntergang. Was ist Ihre letzte Handlung?

Danke sagen. Es erwischt uns alle mal irgendwann. Ich glaube, man muss sich jeden Tag so benehmen, dass, wenn es morgen fertig wäre, man sagen kann: «Es war gut.» Meine Mutter ist so weit. Sie ist so sehr mit sich selbst im Reinen. Ich nehme das als Vorbild. Manches macht man tatsächlich gut, anderes weniger. Irgendwann muss man einfach für alles danken, loslassen und sagen: «Es war schön.» Und hoffentlich ist man dann nicht allein. Aber wenn man das Leben lebt, dann ist man alles andere als alleine.

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