Ich erinnere mich noch genau, wie wir zu zweit im Büro vor dem Bildschirm sassen und gebannt der Medienkonferenz des Bundesrats folgten. Irgendwann stand ich auf und holte einen Cognac, den uns ein Fassadenbauer geschenkt hatte und goss meiner Geschäftspartnerin und mir je ein grosses Glas ein.

Was gerade passierte, war bisher für uns, wie für alle anderen auch, vollkommen unvorstellbar gewesen und warf uns erst einmal aus der Bahn. Im Büro brach grosse Unsicherheit aus und alle wollten von zu Hause aus arbeiten. Wir waren allerdings nicht dafür ausgerüstet und in der Architekturbranche, wo überwiegend in Teams gearbeitet, entworfen und diskutiert wird, war Fernarbeit bisher nie ein Thema gewesen. Wir reagierten noch am gleichen Tag und beauftragten unseren Provider und die Softwarefirma mit der Einrichtung eines VPN-Zugangs für den Server. Die Antwort lautete allerdings, man sei überlastet und der frühestmögliche Termin erst drei Wochen später möglich. Also schlugen wir unseren Mitarbeiterinnen vor, in einem Rotationssystem zu arbeiten, damit sich nie mehr als zwei Personen gleichzeitig in den Räumlichkeiten aufhielten. Wir boten an, sie mit unserem Privatauto von zu Hause abzuholen, um so die gefürchtete Ansteckung im öffentlichen Verkehr zu verhindern.
Die Nervosität unter den Mitarbeiterinnen war hoch, gleichzeitig lief die Arbeit auf den Baustellen wie gewohnt weiter, da die Baubranche fast als einzige von den Massnahmen des Bundesrats ausgenommen war. Natürlich spürten wir auch dort den Druck und die Unsicherheit. Die Lieferung von Möbeln, Sanitärapparaten und Leuchten aus dem nahen Ausland verspätete sich. Manche Bauherren stoppten Bauvorhaben aus Angst vor der Ungewissheit. Wir aber hatten das Glück, dass wir keinen wirklichen Einbruch der Nachfrage erlebten. Die Investitionen, die wir in den folgenden Monaten tätigen mussten, waren dennoch hoch und belasteten uns auch finanziell, denn wir mussten unsere ganzen Computersysteme so aufbereiten, dass wir ohne grössere Einschränkungen im Homeoffice arbeiten können.

Aber auch unsere Grundsätze im Hinblick auf Städtebau und Architektur wurden erschüttert. Viele Menschen leben in stadtnahen Gebieten und sind täglich in die Ballungszentren gependelt, wodurch in den letzten Jahren sehr viel Verkehr entstand, der ein erhebliches wirtschaftliches und ökologisches Problem darstellt. Die traditionelle räumliche Trennung von Arbeit und Wohnen hatte nicht nur zu Verkehrsproblemen geführt, sondern auch zum unkontrollierten Wuchern von mehr oder weniger lieblos gewachsenen Agglomerationsgebieten und damit zum steigenden Verbrauch von Landreserven. Man versuchte raumplanerisch die Lebensräume zu verdichten, um Ressourcen zu schonen. In den Städten sollten neue, dichtere Überbauungen entstehen, die den Wohnraum der Menschen auf kleinerer Fläche konzentrieren.

Doch dann kam Covid-19 und plötzlich hiess es, man solle auf Distanz gehen. Social Distancing also statt Verdichtung! Unsere Ziele und Ideale wurden innerhalb kürzester Zeit radikal in Frage gestellt. Social Distancing ist natürlich deutlich schwieriger in urbanen Gebieten als auf dem Land zu realisieren. Jeder, der ein Stückchen Garten hat, ist plötzlich privilegiert. Er hat Bewegungsraum, Freiheit, ein Stück grünes Paradies ganz für sich. Das Sozialleben kam zum Erliegen. Während der Kontakt zu den Arbeitskollegen nur noch digital erfolgt, trifft man plötzlich die Nachbarn beim Spazieren, kommt ins Gespräch. Statt Partyabend heisst es Grillieren mit maximal einem weiteren Haushalt. Unser Sozialleben wird intimer und digitaler zugleich. Die Definition von Nähe ändert sich, das Zuhause gewinnt an Bedeutung. Wer mehr Wohnraum besitzt, schätzt sich glücklich. Wenn plötzlich eine ganze Familie rund um die Uhr auf engem Raum zusammen sein muss, wachsen die sozialen Probleme. Die Inzidenz von häuslicher Gewalt steigt.
Wir können eine ganz neue Qualität urbanen Lebens erschaffen, die uns auch langfristig bereichert – nicht nur in den Städten, sondern auch in den Agglomerationen. Dafür brauchen wir den Mut, unsere Glaubenssätze aufzulösen, das zu hinterfragen, was wir zu wissen glauben. Wir sind unvorbereitet in eine Krise gestürzt, die viele persönliche Tragödien zur Folge hat. Umso mehr müssen wir neue Ideen entwickeln, innovative Konzepte, damit die Gesellschaft sich an die veränderten Bedingungen anpassen kann. Und wie sagte schon Hermann Hesse: «Jedem Anfang liegt ein Zauber inne…» In diesem Sinne schauen wir zuversichtlich und neugierig in die Zukunft, voller Bereitschaft, uns auf das Neue einzulassen.

Raumbersten
ein Corona-Gedicht von Grace Hulky

Fakten
Zerrinnen,
Neuerdings.
Dünnes Eis,
Dünnes Ich –
Gedanken zerfallen, Fragezeichen Aus Beton,
Gebaut für eine
Andere Zukunft.
Geh weg!
Halt dich fern!
Gefährliches Sprechen, rote Wolke, In eine Grafik
Gebrannt.
Und Raum klingt
Anders,
Zwischenräume
Bis wohin.
Es weint
In mir.
Ich sehne mich,
Nach dir,
Du. Mensch.
Händedruck.
Nach Luft
Und Freiheit.
Und da, ein Körper ganz nah. Un(d)möglich.
Und ich berste
Vor Leben.

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